Psychologie,  Yoga

Hör Mal auf zu atmen!

Im letz­ten Jahr habe ich den Atem als eine der bedeut­sams­ten und zugleich selbst­ver­ständ­lichs­ten Funk­tio­nen ent­de­cken kön­nen. Atmung ist ein kom­ple­xer Vor­gang, der vom Atem­zen­trum im Hirn­stamm gesteu­ert wird. Der Hirn­stamm, den schon Rep­ti­li­en auf­wei­sen, ist für unser Über­le­ben wich­tig. Atmung ist eine auto­no­me Grund­funk­ti­on des mensch­li­chen Kör­pers und die ein­zi­ge auto­ma­tisch gesteu­er­te, die wir zumin­dest zeit­wei­se wil­lent­lich beein­flus­sen können.

Es war an einem Win­ter­abend im Jahr 2018. Ich saß im Zug Rich­tung Hei­mat. Mein Blick streif­te ins dunk­le Nichts und wäh­rend die Regen­trop­fen außen am Glas ent­lang lie­fen, drang eine Stim­me zu mir durch – mei­ne Stim­me. So kannst du nicht wei­ter machen, dein Kör­per packt das nicht auf Dauer.

Mei­ne men­ta­le Stär­ke brach­te mich in der Funk­ti­on als Coach in den Leis­tungs­sport auf Olym­pia­ni­veau. Mei­ne kör­per­li­che Fit­ness ließ eher zu wün­schen übrig, so frön­te ich doch lie­ber dem Genuss von gutem Wein und Essen. In jun­gen Jah­ren habe ich Sport aus ästhe­ti­schen Grün­den betrie­ben, viel­leicht auch aus men­ta­len, denn ich ver­trat die Mei­nung, dass Män­ner nur Frau­en wol­len, die schlank und schön sind. An die­ser Stel­le will ich mich auf­rich­tig bei allen Män­nern ent­schul­di­gen, dass ich ihr Seh- über ihr Denk­ver­mö­gen gestellt habe. Seit Wochen kam in mir immer wie­der das Gefühl auf, den Halt zu ver­lie­ren, die Boden­haf­tung. Auch wenn mein Arbeits­pen­sum für Außen­ste­hen­de hoch war, ich lieb­te das, was ich tat und des­we­gen mach­te es mir nichts aus, wochen­lang durch­zu­ar­bei­ten und quer durch Deutsch­land zu rei­sen. Wenn ich vier Stun­den Schlaf hat­te, war das aus­rei­chend. Sobald ich mei­nen Trai­nings­raum betrat, war ich in mei­nem Ele­ment. In der Vor­be­rei­tung stimm­te ich mich bereits auf den kom­men­den Tag ein. Ich lie­be die­ses Ritu­al am Mor­gen, beglei­tet von fri­schem Kaf­fee­duft einen Leit­fa­den für den Tag zu ent­wi­ckeln. Eben­so lie­be ich es, die Aben­de an der Hotel­bar oder im Zug­bis­tro Revue pas­sie­ren zu las­sen – mit einem Glas Wein. Im Lau­fe der Jah­re habe ich über all die Lie­be den Bezug zu mei­nem Kör­per ver­lo­ren. Der schmer­zen­de Rücken erin­ner­te mich dar­an, dass ich einen habe. Wenn ich dann Mal mehr als 24 Stun­den am Stück frei hat­te, kam ich nicht aus dem Bett. Mein Kör­per war erschöpft und schrie nach Erholung.

An die­sem besag­ten Win­ter­abend beschloss ich, etwas zu suchen, was mich von innen her­aus sta­bi­li­sier­te. Mein feu­ri­ges Wesen pass­te sich der stei­gen­den Dyna­mik an und geriet immer mehr ins Fla­ckern. Es fühl­te sich unge­bün­delt an und es kos­te­te mich immense Kraft, kei­ne Flam­men zu ent­fa­chen. Mor­gens wach­te ich in mei­nem Bett auf und ließ mich durchs Netz trei­ben bis ich auf eine Sei­te stieß, die Yoga­leh­rer Aus­bil­dun­gen an den unter­schied­lichs­ten Orten die­ser Welt anbie­tet. Ich woll­te schon immer Mal nach Indi­en und buch­te kur­zer­hand eine Yoga­leh­rer Aus­bil­dung und einen Flug nach Indi­en. Jetzt könn­te man sagen, wie däm­lich es ist, eine Yoga­leh­rer Aus­bil­dung zu buchen, ohne jemals Yoga gemacht zu haben. Und das wür­de ich schlicht­weg beja­hen, denn als ich die Aus­bil­dung gebucht habe, stand der Nut­zen für mei­ne Arbeit im Vor­der­grund, wäh­rend ich mei­nen kör­per­li­chen Zustand bereits ver­drängt hat­te. Natür­lich such­te ich immer noch etwas, was mich sta­bi­li­sier­te, doch woll­te ich bei­des ver­bin­den, damit die Zeit auch gut inves­tiert war. Also mel­de­te ich mich kur­zer­hand in einem Yoga­stu­dio an, da ich nur noch sie­ben Mona­te Zeit hat­te, um fit zu werden.

Mei­ne ers­te Yoga­stun­de wird bis in alle Ewig­kei­ten einen Platz in mei­ner Erin­ne­rung haben. Ich betre­te einen licht­durch­flu­te­ten Raum, der Duft von Räu­cher­stäb­chen pene­triert mei­ne Nasen­schleim­häu­te und über­all lie­gen schlan­ke, sich anmu­tig räkeln­de Frau­en auf ihren Yoga­mat­ten. Mein Blick wan­der­te von mei­nem XXL-Wohl­fühl-Shirt über mei­ne Schlab­ber­ho­sen hin zu den optisch per­fekt gestyl­ten Frau­en. Selbst der per­fekt sit­zen­de Kno­ten auf ihren Köp­fen lach­te mir hämisch ent­ge­gen. Ich such­te mir ein Plätz­chen in der hin­ters­ten Ecke des Rau­mes und ver­such­te den Anwei­sun­gen der Yoga­leh­re­rin zu fol­gen. Kaum hat­te ich eini­ger­ma­ßen raus, wie eine Übung funk­tio­nier­te, kam die nächs­te. Ich fühl­te mich gefan­gen in einem akro­ba­ti­schen Mara­thon, aus dem ich nicht ent­kom­men konn­te, ohne das mein bereits ange­knacks­ter Stolz kom­plett in sich zusam­men­sack­te. Am Ende der Stun­de lag ich nach Luft schnap­pend auf dem Rücken, Bei­ne und Arme weit von mir gestreckt. Das war mei­ne ers­te Begeg­nung mit Yoga und Atmung. Die fol­gen­den Mona­te drück­te ich mich immer mit einer ande­ren Aus­re­de um die Yoga­stun­den. Ins­ge­samt habe ich es dann doch auf vier gebracht, jedoch mehr mit Wider­wil­len als Freu­de. Da ich men­tal sehr stark bin, muss­te ein neu­es Mind­set her. Die Rei­se war immer­hin gebucht und zudem waren die­se vier Wochen der ein­zi­ge Urlaub, den ich ein­ge­plant hat­te. Also trat ich die Rei­se mit der Ein­stel­lung an, dass ich das mache, was ich kann – denn eine Zer­ti­fi­zie­rung als Yoga­leh­re­rin stand nicht im Vor­der­grund. Im Gegen­teil, ich woll­te gar nicht unterrichten.

In mei­ner Yoga­schu­le wur­de auf jeg­li­che Art von Luxus ver­zich­tet, auch auf Toi­let­ten­pa­pier. Was­ser und die gesun­de Funk­ti­on der Hän­de, mit einer leich­ten Bieg­sam­keit nach bei­den Sei­ten, waren völ­lig aus­rei­chend. Mei­ne Yoga­leh­re­rin ist auch Schul­me­di­zi­ne­rin und aus­ge­bil­det in ayur­ve­di­scher Heil­kun­de, eine sehr gebil­de­te Frau, die Wert auf vega­ne und aus­ge­wo­ge­ne Frisch­kost legt. In der ers­ten Stun­de stell­te sie uns den Tages­ab­lauf für die nächs­ten fünf Wochen vor. Um 6 Uhr auf­ste­hen und die Yoga­hal­le put­zen, ab 7 Uhr Atem­übun­gen, Kör­per­übun­gen, Yoga­phi­lo­so­phie, eine Stun­de Mit­tag, Ana­to­mie, Kör­per­übun­gen, Medi­ta­ti­on und um 18 Uhr Abend­essen. Danach war meist Ler­nen ange­sagt, um die Mas­sen an Inhal­ten nach­zu­ar­bei­ten. Bereits in der ers­ten Phi­lo­so­phie­stun­de atme­te ich auf. Das Yoga Sutra, nach Patan­ja­li, eines der wich­tigs­ten Stan­dard-Wer­ke aus der Yoga Phi­lo­so­phie, beschreibt einen acht­glied­ri­gen, auf­ein­an­der auf­bau­en­den und sich teils bedin­gen­den, ganz­heit­li­chen Yoga­weg auf. Asa­nas, die im Wes­ten weit ver­brei­te­ten Kör­per­übun­gen, sind der drit­te Weg von ins­ge­samt sie­ben wei­te­ren. Neben den Asa­nas gibt es die Yamas, sie hal­ten fünf Regeln für eine ethi­sche Hal­tung nach außen fest, wie bei­spiels­wei­se nicht zu steh­len. Niya­mas sind fünf Regeln, für die Hal­tung nach innen, Selbst­er­for­schung und Rein­heit sind zwei davon. Pra­na­ya­ma, Kon­trol­le des Atems, Pra­tyahra, Rück­zug der Sin­ne, Dhar­na, Kon­zen­tra­ti­on, Dhya­na, Medi­ta­ti­on und Sama­dhi, die Erleuch­tung. Wenn man dem ganz­heit­li­chen Weg folgt, dann kann man psy­chisch und phy­sisch nur gesund blei­ben. Das war mein erleuch­te­ter Moment.

Pra­na­ya­ma, das vier­te Glied, steht für die Zusam­men­füh­rung von Kör­per und Geist durch Atem­übun­gen. Pra­na­ma­ya, sowie auch die ande­ren Bezeich­nun­gen, sind Sans­krit-Begrif­fe, wobei „Pra­na“ Lebens­en­er­gie und „Aya­ma“ kon­trol­lie­ren bedeu­tet, sprich, die Lebens­en­er­gie durch Atem­übun­gen kon­trol­lie­ren. Was der Atem alles kann, wie viel Macht in ihm steckt, wur­de mir in die­sen fünf Wochen bewusst. Bewusst wahr­zu­neh­men, wie intel­li­gent der Kör­per mit dem Atem kor­re­spon­diert, ist unglaub­lich. Wenn ich mei­ne Hand­flä­chen nach oben dre­he, ohne Anstren­gung, ein­fach öff­ne und dann das Hand­ge­lenk nach innen dre­he, sodass der Hand­rü­cken nach oben zeigt und die­se Bewe­gung ein paar Mal lang­sam aus­füh­re, unter Beob­ach­tung mei­nes Atems, dann zeigt sich, dass die­ser ganz auto­ma­tisch mit der Bewe­gung mit­geht – ein Umstand, den ich im All­tag nicht bewusst rea­li­sie­re. Der Atem ist mit den Kör­per­be­we­gun­gen und dem Geist ver­bun­den, die ein­zi­ge auto­no­me Kör­per­funk­ti­on, die wir jeder­zeit pro­blem­los und wil­lent­lich beein­flus­sen kön­nen. Eben­so beein­flus­sen wir den Atem unbe­wusst, er spie­gelt unse­re phy­si­sche und psy­chi­sche Ver­fas­sung wider. Angst hat einen fla­chen Atem. Wer sich erschreckt, dem stockt der Atem. Ist jemand gestresst, atmet er gehetzt. Jeder Mensch hat sei­nen urei­ge­nen Atem­rhyth­mus, so ein­zig­ar­tig wie sein Fin­ger­ab­druck. Das war mei­ne zwei­te Begeg­nung mit Yoga und Atmung, sozu­sa­gen Lie­be auf den zwei­ten Blick.

Bereits in Indi­en habe ich Kon­takt zu Fried­born, einem Gesund­heits­zen­trum im Schwarz­wald auf­ge­nom­men, um Yoga­kur­se über das Jahr ver­teilt zu geben. Zu Hau­se ange­kom­men habe ich mich inten­siv mit psy­cho­mo­to­ri­schen Kör­per- und Bewe­gungs­ab­läu­fen in Ver­bin­dung mit dem Atem befasst und ein an die west­li­chen Bedürf­nis­se ange­pass­tes Yoga ent­wi­ckelt. Mitt­ler­wei­le habe ich meh­re­re Kur­se gege­ben und bin jedes Mal erfreut, was es bei den Men­schen bewirkt. Ihre Selbst­wahr­neh­mung ver­än­dert sich und das Selbst­ver­trau­en wächst täg­lich. Bei man­chen lösen sich im Kör­per abge­spei­cher­te Infor­ma­tio­nen, sie wer­den emo­tio­nal und wis­sen nicht war­um. Das War­um spielt auch kei­ne Rol­le, weil das Set­ting kein the­ra­peu­ti­sches ist. Zuzu­las­sen, über die Atmung bei sich selbst anzu­kom­men, hat eine ganz beson­de­re Kraft.

Es ist längst an der Zeit, dass wir uns wie­der auf unse­re mensch­li­che Natur und unse­re natür­li­chen, sich selbst regu­lie­ren­den Funk­tio­nen besin­nen. Unse­ren Kör­per bewuss­ter wahr­neh­men, mehr auf ihn hören, wenn er uns etwas mit­teilt. Der Atem­fluss hat sei­nen natür­li­chen Weg, er geht ein und aus. Genau­so ver­hält es sich mit allem, was man für sich selbst im Leben will. Will man mehr Mit­ge­fühl und Acht­sam­keit, muss man sich zwangs­läu­fig erst selbst spü­ren und in Selbst­acht­sam­keit leben.

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