
Überforderung mit der Selbstliebe
„Du kannst nur jemanden lieben, wenn du dich selbst liebst.“ Dieser Satz ist allenfalls tauglich als seichtes Zitat für die sozialen Medien, jedoch nicht wirklich als Anleitung für ein erfülltes Leben oder eine glückliche Partnerschaft. Selbstliebe an Bedingungen zu knüpfen, als notwendige Voraussetzung, um jemanden zu lieben, schmeckt wie schaler Sekt. Dieser Hype um das Thema Selbstliebe ist mir zu abstrakt, nicht griffig genug. Liebe und auch Selbstliebe haben keinen Schalter, mit dem man sie nach Belieben ein- und ausstellt, hoch und runterreguliert. Wenn man wüsste, wie das mit dem sich selbst lieben geht, dann würde es jeder tun. Den meisten Menschen fällt es leichter jemand anderen zu lieben als sich selbst. Wie auch immer man seine Liebe ausdrückt und welche Erfahrungen damit einhergehen, ist subjektiv. Für die Liebe gibt es keine allgemeingültige Definition und keinen Leitfaden.
Meine Art zu lieben hat mehrere Entwicklungsstadien durchlebt und hat sich dabei mehrfach transformiert. Es gab gewiss Zeiten, in denen ich nicht sparsam mit meinen Erwartungen an die Liebe war. Ich hatte eine Vorstellung davon, wie Liebe auszusehen hatte, um Liebe zu sein. Spitzenreiter waren konkrete Vorstellungen, wie sich jemand zu verhalten hatte, um meiner Liebe gerecht zu werden. Ich muss gerade schmunzeln und zeitgleich schaudert es mich bei den vielen Bildern mittelschwerer Dramen, die sich gerade vor meinem inneren Auge abspulen. Wenn mir etwas gegen den Strich ging, habe ich von der Poleposition aus verbal Gas gegeben. Noch heute höre ich diesen einen Satz, der mich über 40 Jahre begleitet hat: „Du kannst im Streit so anstrengend sein.“
Mit meiner eigenen Entwicklung wurde meine Liebe immer freier von Bedingungen. Wenn ich so recht überlege, hat diese Art zu lieben in Wechselwirkung mit meinen Kunden begonnen. Über die Jahre habe ich eine Haltung entwickelt, die von bedingungsloser Annahme geprägt war. Zuerst ist mir das bei meinen Kunden und Freunden gelungen, da war es zugegebenermaßen auch einfacher. Jemandem das Gefühl zu geben, gut zu sein, egal wie die Person sich verhält, fiel mir nicht schwer, so lange sie nicht mit mir unter einem Dach wohnte oder den gleichen Nachnamen trug wie ich. Im nächsten Schritt schaffte ich es, die Liebe zu meinem Sohn von allen Bedingungen und Erwartungen zu lösen. Mutterliebe ist etwas tricky, schließlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder. Als sich „das Beste“ als eine Manifestation meiner ureigenen Ängste entlarvte, war ich ganz kleinlaut und suchte das klärende Gespräch mit ihm. Ich kann mich an diesen Tag erinnern als wäre es gestern gewesen. Er war sechzehn Jahre alt. Wir saßen an einem lauen Sommerabend auf unserer Terrasse. An dem Abend habe ich ihm gestanden, dass meine Ängste mein Verhalten unbewusst gesteuert haben.
Dieses ständige daran erinnern, dass er sein Potential besser nutzen kann, Vorschläge zu machen, wie er sich selbst besser strukturieren kann und auch meine emotionsflexiblen Ausraster, wenn ich am Ende meines Lateins war: Das waren alles Manifestationen meiner Angst. Tränen liefen mir die Wangen runter, als ich ihm versicherte, dass ich ihm vertraue und er ab jetzt Entscheidungen mitsamt aller Konsequenzen selbst treffen soll. Es war ein sehr ergreifender Moment, weil mir bewusst wurde, dass ich ihn nicht bedingungslos liebte und vor allem meiner Erziehung nicht vertraute. Vertrauen wächst nicht aus der Angst heraus, der Angst um jemanden oder der Angst vor Ablehnung. Vertrauen ist die Basis bedingungsloser Liebe. Dabei war genau das meine Stärke. Vertrauensvolle Atmosphären in wenigen Minuten zu schaffen, in der sich Menschen öffnen.
Je bedingungsloser ich liebte, umso häufiger wurde ich mit dem Selbstbild meines Umfeldes konfrontiert. Wer sich selbst nicht richtig liebt, dem kann es schwerfallen, zu akzeptieren, von jemand anderem bedingungslos geliebt zu werden. Ich hatte eine Freundin, die in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen ist. Die Ehe ihrer Eltern könnte als Vorlage für eine Hollywood Romanze dienen. Eine sehr innige und warmherzige Partnerschaft, in der meine Freundin als Einzelkind aufgewachsen ist. Mit so einem ideal als Vorbild hatte sie es schwer in Partnerschaften. Sie fiel häufig auf Männer rein, die ihr die große Liebe versprachen und nach wenigen Wochen entpuppte sich der Märchenprinz als Frosch. Daraufhin saß sie tränenüberströmt vor mir, während ich meine Aufbaurolle einnahm. So ging das über viele Jahre hinweg bis zu diesem einen Tag. Dieses Mal war es ein Typ, der entschieden zu weit gegangen ist. Sie hat es sogar akzeptiert, dass er noch eine andere Partnerin hatte. Doch das war nicht Mal der Tiefpunkt für sie. Nein, sie war auf einer Party, wo er unverhohlen mit einer jungen Frau flirtete und abblitzte. Jeder hat das mitbekommen. Sie arbeiteten beide im gleichen Unternehmen und natürlich waren auch weitere Kollegen auf dieser Party. Obwohl sie das mitbekommen hatte, wartete sie auf ihn und nahm ihn dann sturzbetrunken mit zu sich nach Hause. Sie bat mich, nein sie flehte mich an, mit ihm zu reden. Natürlich mischte ich mich ein, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, sie leiden zu sehen. An diesem besagten Tag unterstellte sie mir, dass ich ihr nicht gönne würde, glücklich zu sein. Schließlich hätte ich die Beziehung zwischen ihr und dieser Kröte zerstört. Mir blieben ihre Worte im Hals stecken als ich nach Luft rang. Was ich danach sagte, weiß ich nicht mehr im genauen Wortlaut. Es war jedoch laut, daran erinnere ich mich. Es war unmissverständlich, auch daran erinnere ich mich. Sinngemäß sagte ich, dass sie ein Opferlamm für ihre Unfähigkeit, sich selbst zu lieben, braucht und ich nicht mehr bereit bin, dafür herzuhalten. Mit dieser Erkenntnis war die Freundschaft nach Jahren bedingungslos beendet. Ja, das mit der Selbstliebe ist gar nicht so einfach, wenn man das Gefühl hat, nicht liebenswert zu sein.
Meine schönste Begegnung mit der Selbstliebe hatte ich mit meinem jetzigen Lebenspartner. Über die Jahre habe ich gelernt, meine Schattenseiten immer mehr anzunehmen und gut zu mir zu sein. Dennoch treten alt bekannte Verhaltensmuster in den engsten menschlichen Beziehungen wieder zu Tage. Es war ungefähr vor dreieinhalb Jahren. Wir kannten uns erst wenige Wochen. Er textete mir, dass er bei seinen Eltern zu Besuch sei und sich gerne seinem Vater widmen würde. Die Zeilen ergriffen mein Herz wie die Pranken einer Raubkatze und hielten es fest zwischen ihren Krallen eingeklemmt. Ich ging direkt in Angriffshaltung, meine Sinne benebelt vom Rotwein, und fuhr meine Pranken aus. Es spulte sich automatisch ab und ich mittendrin im Spiel der Erwachsenen „Tritt mich!“ Das bedeutet, dass ich meine Partner, aus Angst sie könnten mich verlassen, provoziere, bis sie mich „treten.“ In diesem Fall machte er seinen Missmut deutlich klar und schaltete sein Handy aus. Getreten wie ein Hund kauerte ich mich auf dem Sofa zusammen und schlief schluchzend ein. Am nächsten Morgen erwachte mein Schuldgefühl, noch bevor ich die Augen öffnete. Was hatte ich nur gemacht, dabei lief es so gut zwischen uns. Da war sie wieder, die anstrengende Amel. Mein Blick fiel auf mein Handy, das mich strafend anschwieg. Es war aus, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Neeeeein, ich vergrub meinen Kopf im Kissen und ergab mich meinem Selbstmitleid. Nach ein paar Stunden der Selbstvorwürfe hatte ich endlich den Schneid, eine Sprachnachricht zu verfassen, in der ich mein Muster offenlegte. Nachdem ich die Nachricht versendet hatte, schaltete ich sofort mein Smartphone aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit, es waren ungefähr zwanzig Minuten, schaltete ich es hoffnungsvoll wieder ein. Nichts, also wiederholte ich das Prozedere mehrmals hintereinander. Total hirnrissige Aktion. Im Nachhinein scheint die Sonne immer klarer. Ich hielt das Smartphone gerade in der Hand, da klingelte es schrill in mein Ohr. Mein Herz machte einen Angstsprung mitten in meine Hose. Zaghaft ging ich ran. Ein Lachen verzerrte mein komplettes Bild. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Gut gelaunt begrüßte mich mein Partner und meinte: „Ach Baby, das habe ich längst vergessen. Du bist halt meine temperamentvolle, crazy Chica. Ich kann nicht erwarten, dass du im Bett leidenschaftlich bist aber bei Diskussionen sachlich agierst. Das gehört zu dir und ich liebe dich wie du bist.“ Entzaubert! Alles, was ich einfach so angenommen hatte. Alles, was ich mir über die Jahre zu Herzen genommen hatte. All diese Schuldgefühle. Einfach in zwei Sätzen entzaubert.
Ich erlebe zum ersten Mal in einer Liebesbeziehung, wie es ist, bedingungslos angenommen zu werden. Das hat es mir leicht gemacht, mich ganz zu öffnen und Themen, die nicht in unserer Beziehung entstanden sind, zu diskutieren. Ängste und tiefe Sehnsüchte auszusprechen. Mein Selbstbild wurde nach und nach entzaubert und zurechtgerückt. Zu mir selbst zu finden, ohne dass Geprägtes mich über Schuldberge jagte, war auf einmal einfach. Liebe und Selbstliebe entwickeln sich in Beziehungen zu anderen Menschen. Sie entstehen nicht durch Techniken, Affirmationen und Trockenübungen. Von Kindesbeinen an lernen wir, uns über die Augen anderer zu betrachten und zu bewerten. Ein Baby hat noch kein Selbst und wie es sich in Bezug zu seiner Umgebung erlebt, ist maßgeblich für die Selbstwahrnehmung und das Selbstbild. Ach ja, da gibt es noch das Idealbild, das beschreibt, wie man gerne wäre und nicht ist. Genau diese Differenz von „ich wäre gerne 10 kg schlanker, hätte gerne glattere Haare, eine filigrane Nase, wäre gerne schlauer oder einfach disziplinierter.“, macht es schwer, uns selbst zu lieben. Dieses Idealbild ist durchtränkt mit Annahmen, wie andere uns gerne hätten und steht immer drohend neben dem Selbstbild.
Selbstbild und Selbstliebe werden im gleichen Sud gegart. Wenn wir aufhören, uns etwas vorzumachen und das Gefühl haben, anderen nichts mehr vormachen zu müssen, dann sind wir auf einem guten Weg. Es gibt für mich kein schöneres Gefühl als die bedingungslose Annahme, sie lässt mich und andere ganz werden. Sie verlangt nicht, dass man sich verstellt, versteckt oder gar konditionieren lässt. Sie verlangt keine Beschönigungen und auch nicht, dass man immer liebenswert ist. Sie verlangt nur eins: Wahrhaftigkeit. Ich liebe mich, nicht weil — ich liebe mich, obwohl ich so bin, wie ich bin und genauso versuche ich, andere zu lieben. Nicht alle, bei manchen fällt es mir schwerer als bei anderen. Und auch das ist gut so! Liebe bedeutet nicht, dass sie immer gleich ist. Genauso habe ich Zeiten, da fällt es mir schwer, mich selbst auszuhalten. Auch das habe ich gelernt anzunehmen und damit umzugehen. Kein Zustand währt ewig. Alles entwickelt sich, wenn es Raum bekommt. Sitzt es fest zwischen Annahmen und Erwartungen, ist es erst Mal in seiner Entwicklung blockiert.

