
Hinter den Kulissen des Feedbacks
Feedback war schon immer ein Reizwort für mich. Die Bezeichnung kommt aus der Mechanik, genauer gesagt aus der Kybernetik. Eine Wissenschaft, die sich mit der Steuerung und Regelung von Maschinen befasst. Analogien, die aus einem mechanischen Menschenbild herrühren, sind in unserer Wirtschaft weit verbreitet. In meinen Workshops werde ich nicht müde, darauf zu verweisen, dass Feedback ein hochsensibles Thema sein kann und nicht mit allgemeingültigen Regeln anzugehen ist. Das, was Menschen tun, ist ebenso subjektiv bestimmt wie das, was Menschen rückmelden. Zumal Menschen im beruflichen Kontext eher selten sagen und tun, was sie wirklich denken und fühlen. Mir war stets wichtig, zu verdeutlichen, dass wir ungebeten — auch wenn es eine berufliche Vorgabe ist — in die Selbstwahrnehmung eines Menschen eingreifen. Bei einer Rückmeldung kann viel in Bewegung kommen, weil unbewusste und bewusste Prozesse aus den unterschiedlichsten Aktivierungsmustern angestoßen werden.
Gestern durfte ich selbst wieder einen solchen Prozess durchleben. Mein Bruder ist seit Jahren mein Sparringspartner, wenn es um persönliche oder berufliche Veränderungen geht. Momentan steht bei mir eine berufliche und persönliche Verschmelzung an. Für mich ein bedeutsamer Schritt in Richtung Ganzheit. Erstmalig geht es um mich. Nicht um die Business Psychologin, den Coach, die Autorin, sondern einfach nur um mich — Amel Lariani. Ich will mich lösen von all den Titeln, Bezeichnungen und allem, was dem anhaftet. Der Art und Weise, wie ich dadurch gesehen werde und vielleicht sogar gesehen werden möchte. Mein Beruf war immer ein wichtiger Teil meines Lebens, ich blicke auf viele schöne und erfüllte Jahre zurück. Jetzt will ich komplett neue Wege gehen. Zunächst möchte ich einen Blog und einen YouTube Channel kreieren, ohne Konzept. Es soll einfach im Prozess entstehen, was entstehen will. In den letzten Jahren habe ich bereits viel veröffentlicht, dennoch fordert mich das Schreiben eines Blogbeitrages, der mich im Kern widerspiegelt, heraus. Fachartikel und ‑bücher zu schreiben, ist etwas komplett anderes. Wie ich mich mit einem Thema befasse, welche Kernaussage ich vermitteln will, alles das läuft fast automatisiert. Es geht mir leicht von der Hand. Vergleichbar mit einem Flussbeet, das nach und nach ausgehoben wird. Die jeweiligen Inhalte sind das Wasser, die in das Beet geleitet werden bis sie in einen geschmeidigen Fluss kommen.
Wer schon Mal versucht hat, eine Gewohnheit zu verändern, kann sich vorstellen, was ich gerade beim Schreiben meines ersten Blogartikels erlebe. Umgeben von gefühlt 100 Fachbüchern schlage ich nach, was ich eigentlich sagen will und wer dazu bereits etwas Interessantes gesagt hat. Meine Vorgehensweise ist die gleiche, doch die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Totaler Irrsinn nachzuschlagen, was ein bekannter Philosoph gesagt hat, wenn es darum geht, meiner eigenen Stimme Ausdruck zu verleihen. Mein erster Blogartikel hat mich vier Tage beschäftigt, jedes Mal war ein wenig mehr von mir zu sehen. Als ich das Gefühl hatte, das bin ich, habe ich den Artikel an zwei Personen, die mir sehr nahestehen, versendet. Schon beim Versenden war ich leicht nervös, weil ich viel mehr öffentlich von mir Preis gegeben habe, als ich es sonst tue. In diesen Phasen des Wandels fühle ich mich wie eine offene Fleischwunde. Die kleinste Brise Salz hat Tiefenwirkung.
Nach den ersten positiven Rückmeldungen wurde ich etwas mutiger und las den Artikel drei weiteren Menschen vor und auch sie reagierten durchaus angetan. Wurzellos beflügelt, malte ich mir in den schönsten Farben mein erstes YouTube Video aus. Emotional vorgetragen, mitten in der Natur. Ja, das fühlte sich richtig gut an. Ich war mir sicher, meinen Weg gefunden zu haben. Diese Sicherheit verflog über Nacht und machte einer leisen Ahnung Platz, dass es das immer noch nicht ist. Ich fühlte in mich, war es mein perfektionistischer Selbstanspruch, der mich herausforderte oder doch etwas ganz anderes? Den ganzen Tag schob ich lustlos meinen Artikel und meine Gedanken vor mir her. Bis die Gedanken, der strahlenden Sonne zum Trotz, meine Stimmung düster einfärbten. Da ich nicht wollte, dass meine Stimmung auf meine Mitmenschen überschwappt, verkroch ich mich in meinem Bett. „Ein kleines Schläfchen, dann siehst du wieder klar!“, hörte ich mich sagen. Gerade als ich mir das Kissen unter meinem Kopf zurechtrückte, klingelte das Telefon. Mein Bruder. Das war kein guter Zeitpunkt, ich beschloss ihn später zurückzurufen.
Nach einem tiefen, erholsamen Schlaf wählte ich seine Nummer. Wir tauschten uns über eines seiner Projekte aus. Meine Stimmung hob sich zunehmend und dann purzelten die Worte einfach so aus meinem Mund heraus „Magst du, dass ich dir meinen ersten Blogartikel vorlese?“ Mein Bruder entschied sich ihn erst Mal selbst lesen zu wollen. Noch während er sprach spürte ich die steigende Anspannung in meinem Körper. Seine Meinung ist mir sehr wichtig. Wenn nicht sogar am wichtigsten. Er fordert mich, konfrontiert mich mit meiner Intention und ist dabei unverblümt in seiner Wortwahl. Mir wurde etwas flau, weil ich bereits ahnte, dass ich nicht die Rückmeldung erhalten werde, die ich mir ersehnte.
Ich weiß, dass ich sehr gute Arbeit abliefere, schließlich bin ich selbst mein härtester Kritiker. Es war nie gut genug, bis es perfekt war. Doch unter all diesem Perfektionismus bleibt das Gefühl anhaften, ein Gefühl, dass mich immer noch in Erinnerung an prägende Zeiten einholt. Die Schuld! Kein Gefühl sucht sich den Inhalt aus, die intensiven Gefühle werden durch einen Reiz ausgelöst und durchwandern unseren Körper wie ein ausgebautes Flussbett. Gefühle sind nicht zu verwechseln mit Emotionen, sie entstehen nur, wenn unser Gehirn die Regungen unseres Körpers wahrnimmt und interpretiert.
Über die Jahre Selbstbeobachtung habe ich ein sehr gutes Körperbewusstsein entwickelt und kann die Zusammenhänge in mir bis in ihren Ursprung verstehen. Dieses Verstehen hilft mir das Feedback meines Bruders nicht auf ihn zu projizieren. Als er mich anrief, fing er direkt mit einer Kritik an. Bei allem Verstehen spürte ich, wie sich Fäuste in mir bereit zum Kampf machten, um mein Werk zu verteidigen. Widerstand baute sich in mir auf, obwohl ich den Umgang mit Feedback gelernt und gelehrt habe und noch dazu weiß, dass der alte Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“ mich von Zeit zu Zeit heimsucht. Zudem will ich sein Feedback, weil es in meinem Interesse ist. Ich will immerhin an den Herausforderungen wachsen und dennoch habe ich innerlich die Fäuste geballt, um meinen Selbstwert zu verteidigen. Bereit in den Ring zu steigen, tänzelte ich innerlich auffordernd hin und her.
Runde 1: Mit rausgestrecktem Kinn fragte ich gereizt „Hast du nur diese Kritik? Wie hat dir der Rest gefallen?“ Nach einem langgezogenen „es war ok“ spürte ich wie jedes seiner Worte meinen Ärger ein Stück weiter in den Nacken hochpushte. Meine Körperhaltung verspannte sich im Nacken-Schulter-Bereich und auch wenn ich ihn nicht sah, bäumte er sich in Übergröße vor mir auf. Gefühlt blickte er lächelnd auf mich herab, tätschelte mir über den Kopf als wolle er sagen: „Zu mehr hat es leider nicht gereicht.“
Runde 2: Mein Innenleben hatte sich verselbstständigt, um es im Zaum zu halten, baute ich eine Blockade auf. Währenddessen versuchte mein Bruder mir zu erklären, was ihm fehlte. Wie ein Schwall aus zusammenhanglosen Worten prallten seine Bemühungen an meiner Blockade ab. Ich hörte mich stets ruhig mit einem leicht gereizten Unterton wiederholen: „Verstehe ich nicht. Was meinst du damit konkret?!“
Runde 3: Seine ruhige Art mich immer wieder abzuholen und mir auf unterschiedliche Weise zu erklären, was er genau meint, nahm der bedrohlichen Situation ihre Brille. Die Anspannung löste sich, mein Ärger floss ab, allmählich öffneten sich meine verengten Gefäße und Gedanken. Seine Worte begannen durch die Blockaden an mich heranzudringen. Mein Körper und Geist wurden durchlässig, bereit, seine Argumente aufzunehmen, veränderte sich meine Haltung.
Runde 4: Ich hörte, was er sagte, konnte es nicht begreifen und bat um ein konkretes Beispiel. Wir arbeiteten uns langsam zueinander vor, bis ich ein Gefühl für sein Anliegen entwickelte. Das hörte sich alles sinnig an, ein leichtes Schamgefühl zog durch mich durch. An dieser Stelle war es mir wichtig, meinem Bruder meinen inneren Prozess kurz zu schildern, mich für seine Geduld und die wertvollen Impulse zu bedanken.
Dieses Gespräch dauerte höchstens zwanzig Minuten. Es gab Zeiten, da hätte es richtig geknallt, es wäre persönlich geworden und auch verletzend. Jeder von uns hätte sich zurückgezogen, um dann mit neuen Erkenntnissen wieder aufeinander zuzugehen. Feedback beinhaltet für mich auch das Bewusstsein, seine Gefühle zu erkennen, den Kontext zu verstehen, in dem sie entstanden sind und sie in der Situation angemessen auszudrücken. Mein Gegenüber, in dem Fall mein Bruder, ist Teil meines emotionalen Prozesses. Auch wenn meine Reaktion einen ganz anderen Ursprung hat und sie rational betrachtet nichts mit dieser Situation zu tun hat, spielt sie mit rein. Gerade tippe ich die letzten Zeilen, durchdrungen mit einem Lächeln, das von Herzen kommt. Ich werfe einen Blick zurück in meine Erinnerung und spüre, wie die Wunde sich schließt. Vielleicht ist genau das meine Stärke. Dass ich verwundbar bin. Dass ich dieses Gefühl immer wieder zulasse, daran wachse wie eine Kerze, die im Sommerlicht schmilzt und eine neue Form annimmt.

